05.07.2016

Von einem Maisfeld und einer kleinen Ewigkeit

Es ist windig, nicht warm und nicht kalt, der Himmel hängt voller Wolken, die sich noch nicht
endgültig entschieden haben, ob es heute noch regnet. Wir drei streifen über Feldwege umgeben von Rüben, Kartoffeln und Salat. Es ist keine alltägliche Runde, sie ist über alle Maßen ereignislos und irgendwie dumpf. Wir sind kurz vor dem kleinen Weg in Richtung Straße, die Leinen habe ich schon in der Hand. Emily ist ein kleines Stück vor mir und nutzt jeden leinenlosen Meter. Sparta schlendert an Mais und Rüben vorbei und inspiziert genau, wer hier sonst so unterwegs ist. Ich drehe mich nach vorne, rufe Emily zu, dass wir hier abbiegen, drehe mich nach hinten und Sparta ist weg.
Mein Herz bleibt einen kurzen Augenblick stehen. Dann fällt mir ein, das kenne ich ja schon: Sparta biegt ein kleines Stück ab, verschwindet für eine Sekunde hinter hohem Gras und ich drehe durch. Ich rufe Emily zu mir und schaue zwischen halbhohem Mais nach Sparta. Doch ich sehe ihn nicht. Dann ein Rascheln, eine Bewegung im Feld und ein Geäusch. Aber das ist nur der Wind. Keine Spur von Sparta. Wieder zwinge ich mich zur Ruhe, auch das kenne ich schon: Ein Kaninchen flitzt vorbei, Sparta ist eine Minute wie ferngestuert und dann kommt er mit hängender Rute zurück.
Die Minute ist um. Sparta ist nicht da.

Emily sitzt brav neben mir, schaut mich mit ihren großen Kulleraugen an, bevor ihr Blick in Richtung Maisfeld streift. Ich nehme sie an die Leine und entscheide mich, mit ihr ein Stück aufs Feld zu gehen um zu sehen, ob sich etwas bewegt. Keine Chance, eines ist sicher, Emily wird nie in einem Maisfeld verschwinden. Wir drehen um. Es sind nun zwei Minuten, ich weiß das, ich habe auf die Uhr geschaut. Es kommt mir vor wie eine kleine Ewigkeit. In meinem Kopf laufen ununterbrochen zwei Filme gleichzeitig ab. Der eine zeigt, wie Sparta mit hängender Rute aus dem Feld getapst kommt, der andere wie Sparta mitten auf dem Feld zu mir zurück will, die Orientierung verlier, in die falsche Richtung läuft und plötzlich auf der Straße steht. Ich zittere, schreie, rufe, brülle "Sparta". Drei Minuten. So lange war er noch nie außer Sichtweite. Klar, er ist schon mal im Gebüsch verschwunden, hat im Wald irgendwas gejagt, aber noch nie eine drei Minuten lange Ewigkeit.

Ich tigere am Feld auf und ab. Ich will losrennen und ihn suchen und gleichzeitig hier stehen bleiben und auf ihn warten. Der Wind macht mich wahnsinnig. Jede Bewegung im Feld lässt meinen Atem stocken. In meinen Augen bilden sich Tränen, ich habe Angst und bin so schrecklich hilflos. Emily sitzt noch immer neben mir, verfolgt jede meiner Bewegungen und über ihrem Kopf erscheint eine Gedankenblase, in der steht: Ich würde dir so was ja nicht antun. Ich lasse mich auf meine Knie fallen, ich schreie nach Sparta, pfeifen kann ich schon seit einer ewigen Minute nicht mehr. Wieder eine Bewegung im Mais. Nur eine Bewegung und ein leises klimpern. Das ist das Geräusch von Spartas Tasso Marke, wie sie an den Metallring seines Geschirrs schlägt. Ich blicke auf und schreie "hier" so liebevoll und freundlich, wie es mir gerade möglich ist. Ein kleines Gesicht kommt hechelnd zwischen den Maispflanzen hervorgehüpft. Spartas Zunge hängt fast bis auf den Boden. Als er einen halben Meter vor mir steht greife ich beherzt nach seinem Geschirr, reiße ihn zu mir, drücke ihn an mich, so fest, wie man so einen kleinen Hund drücken kann, ohne ihn zu zerquetschen und die kleine Ewigkeit ist zu Ende. Er ist wieder bei mir, da wo er hingehört.

So fertig, wie er ist, ist er weit gelaufen. Doch jetzt ist er wieder da. Ich weiß, er kommt immer zurück. Was auch immer er in der Nase hat, am Ende steht er immer wieder vor mir.
Das waren die längsten fünf Minuten meines Lebens. Wenn ich nicht wüsste, dass es fünf Minuten waren, könnte ich Euch jetzt genau so gut erzählen, er wäre eine Stunde oder eine Ewigkeit weg gewesen, denn genau so fühlte es sich an. Zittrig und wie in Trance gehe ich mit den beiden nach Hause. Kaum sind wir zur Tür rein, schnappt sich Sparta seinen Lieblingsball und legt ihn auffordernd vor mich, als wäre nichts gewesen. Ich liebe dieses kleine Monster, auch wenn er mich wahnsinnig macht. Von Maisfeldern werden wir uns in nächster Zeit fernhalten und von kleinen Ewigkeiten hatte wir für dieses Leben auch genug.

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